Kürzlich war ich zu Besuch bei meinem Mitbewohner in der Schweiz – ein Ort, an dem gute Gespräche über Wein fast ebenso selbstverständlich sind wie das ein oder andere Glas Pinot Noir. Er ist zurecht sehr stolz auf die Weine der Schweiz und sucht oft den Vergleich zum Burgund. An diesem Abend wurden mir vier Weine aus dem Jahrgang 2021 blind serviert, alle Pinot Noirs:
– Domaine Berthaut-Gerbet Bourgogne Les Prielles 2021
– Domaine Confuron-Cotetidot Vosne-Romanée 2021
– Domaine Duroché Gevrey-Chambertin 2021
– Caves de Chambleau La Gavotte 2021 (aus Neuenburg in der Schweiz)
Mein Mitbewohner ist Fan von Ganztraubenvergärung – besonders bei Pinot Noir, dieser zarten Diva unter den Rebsorten. Die gezielte Einbindung ganzer Trauben in die Gärung kann dem Wein mehr Struktur, Komplexität und Spannung verleihen. Doch genau an diesem Abend kam es zu einer sehr spannenden Diskussion – ausgelöst durch einen Wein, der uns hellauf begeistert hat. Einer der uns beide mehr als aufhorchen ließ. Feingliedrig, aber mit immensem Druck. Rote Beeren, eine fast vibrierende Spannung. Ein Wein, der klar und kühl sprach – leicht grüne Noten, extrem Frisch. Es war der 2021er Gevrey-Chambertin von Domaine Duroché.
Schnell kamen wir in das Mutmaßen. Hatten wir es hier mit Ganztrauben zu tun?
Jedoch eins nach dem anderen. Was sind denn überhaupt Ganztrauben? Ich habe die Theorie wie folgt verstanden. Normalerweise werden bei der Rotweinherstellung die Trauben entrappt – das heißt, die Beeren werden von den Stielen getrennt. Bei der Ganztrauben- oder auch “Whole Bunch” – Vergärung passiert das nicht. Die ganzen Trauben kommen mit Stielen in die Gärbehälter.
Die Stiele bringen einige interessante Eigenschaften in den Wein:
1. Mehr Struktur
Die Stiele enthalten Gerbstoffe (Tannine), die dem Wein mehr Halt und Biss geben – besonders wichtig bei zarten Rebsorten wie in Spanien Grenache oder Zweigelt in Österreich.
2. Frische und Spannung
Ganztrauben bringen oft eine kühle, leicht würzige Note, die dem Wein Frische verleiht.
Diese Methode verleiht dem Wein jedoch nicht mehr Fülle, wie man zunächst vermuten könnte. Vielmehr wirken die Rappen säurepuffernd, was zu einer natürlichen Entsäuerung und in der Regel auch zu einem etwas niedrigeren Alkoholgehalt führt. Farblich zeigen sich die Weine oft etwas heller, dafür aber mit einer ausgeprägten Frische und Klarheit, die typische Pinot-Eigenschaften elegant unterstreichen.
Wenn Trauben jedoch nicht ganz reif sind, können die Stiele grün und bitter schmecken. Dieser Stil passt also nicht zu jedem Jahrgang – in kühlen Jahren ist das Risiko höher, dass der Wein unreif wirkt. Mit Ganztrauben wird vorrangig beim Rotwein gearbeitet. Bei Weißwein will man möglichst wenig Tannin und keine grüne Bitterkeit. Deshalb werden Weißweine meistens entrappt und sofort gepresst, bevor sie gären. Die Stiele würden hier einen unangenehmen Bitterton bringen. Bei sogenannten Orange Wines (Weißweine, die wie Rotweine auf der Schale vergoren werden), nutzen manche Winzer auch Ganztrauben. um mehr Struktur, Gerbstoff und Komplexität zu gewinnen. Diese Methode ist jedoch selten und stilistisch eher speziell.
Zurück zu unserem hervorragenden Wein. Nach kurzer Recherche war klar, dass der Wein in Vergleich zu den anderen Wein viel weniger Anteil an Ganztrauben hatte. Pierre Duroché gilt als ein sehr feinfühliger Winzer in Gevrey-Chambertin, welcher beim Ganztraubeneinsatz selektiv und vorsichtig agiert. Laut Jasper Morisson nutzte er zum Beispiel in dem sehr warmen Jahr 2018 circa 30% Ganztrauben– bei den Village-Cuvées wie unserem Gevrey allerdings deutlich weniger oder sogar gar keine.
Für den kühlen Jahrgang 2021 lässt sich sagen: Auch hier scheint er weitgehend auf entrapptes Lesegut gesetzt zu haben. Kritiker wie Neal Martin beschreiben den Stil als fokussiert, strukturiert, aber nie überladen – ein deutlicher Hinweis auf den Verzicht auf massiven Ganztrauben-Einsatz.
Ganztrauben im kühlen Jahr – sinnvoll oder riskant?
2021 war in vielen burgundischen Weinbergen ein kühles Jahr mit frostigen Frühlingstagen und langer Vegetationsperiode. Viele Winzer entschieden sich gerade in solchen Jahren für den Einsatz von Ganztrauben – um mehr Textur, Würze und Reifepotenzial zu erzeugen. Auch bei den anderen drei Weinen des Abends war das spürbar:
– Der Vosne-Romanée von Confuron-Cotetidot wirkte deutlich würziger, leicht kräutrig, mit einem leichten Grip – ganztraubentypisch.
– Der Les Prielles von Berthaut-Gerbet zeigte ebenfalls einen höheren Anteil von Ganztrauben
– Und selbst der La Gavotte aus der Schweiz, welcher viel dunkelbeeriger war, hatte auch spürbar Ganztrauben. Der Jahrgangsverlauf in der Schweiz war vergleichbar mit dem im Burgund.
Doch keiner dieser Weine hatte die strahlende Klarheit des Duroché. Es geht auch anders!
Der Abend hat uns etwas Entscheidendes gezeigt: Der Einsatz von Ganztrauben ist kein Allheilmittel. Er kann viel bringen – Struktur, Energie, Duftigkeit. Aber er muss zur Stilistik des Weines, zum Jahrgang und vor allem zum Lesegut passen. Duroché zeigt mit seinem 2021er eindrucksvoll: Wenn das Traubenmaterial perfekt selektioniert, sauber und physiologisch reif ist, dann braucht es keine zusätzliche aromatische Struktur durch Stiele. Dann reicht Präzision. Dann spricht das Terroir. Und zwar gewaltig.
Der Einsatz von Ganztrauben ist kein dogmatischer Stilmittelkatalog, sondern ein Instrument. Es kann, richtig eingesetzt, Wunder wirken. Doch manchmal ist weniger eben mehr.
Es lässt sich als Winzer nicht nach Schema F arbeiten. Jeder Jahrgang bringt neue Herausforderungen wie Frost, Hitze, Regen zu unpassenden Zeiten oder gar ein Perfekten Herbst. Genau darauf muss individuell reagiert werden. So ist es auch beim Einsatz von Ganztrauben. Es gibt kein Richtig oder Falsch, kein immer oder nie. Die Entscheidung, ob und mit wie viel ganze Trauben mitvergoren werden ist keine Technikfrage, sondern eine Stilfrage. Eine Reaktion auf den Jahrgang, das Lesegut, den gewünschten Ausdruck des Winzers.
Manche Jahre verlangen nach Struktur, manche nach Feinheit. Vermutlich ist es sogar so, dass manche Lagen Stiele vertragen und andere darunter leiden. Und manchmal – wie bei Duroché – zeigt sich Größe gerade im Weglassen.